Titel
Historischer Atlas Schleswig-Holstein vom Mittelalter bis 1867.


Herausgeber
Ibs, Jürgen H.
Erschienen
Neumünster 2004: Wachholtz Verlag
Anzahl Seiten
174 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan Rüdiger, Institut für Geschichtswissenschaft, Humboldt-Universität zu Berlin

Mit dem Erscheinen seines dritten Teiles ist der „Historische Atlas Schleswig-Holstein“ jetzt komplett, nach sieben Jahren Bearbeitungszeit – für ein Vorhaben dieser Größenordnung recht zügig. Die Erscheinungsweise ist achronologisch: Der erste, 1999 erschienene Band behandelt die Zeit nach 1945, der zweite (2001) die Periode unter preußischer Herrschaft 1867–1945; der nun erschienene dritte Teil deckt die gesamte Zeit vor 1867 ab, sozusagen die Vorgeschichte der preußischen Provinz und des deutschen Bundeslandes.1 Dies hat massive Folgen für die narrative Struktur: Der zweite Teil muss ankommen, wo der erste anfängt, und das Jahrtausend, das der dritte Teil behandelt, muss zu den ersten beiden Teilen hinführen. Dass dies nicht produktionstechnischer Kontingenz geschuldet ist, sondern editoriales Prinzip darstellt, wird bereits in den ersten Sätzen der „Historischen Einführung“ zum dritten Teil (Ulrich Lange, S. 17-20) klargestellt: „Schwerpunkt der Darstellung bilden Strukturen, die sich vom 11. bis zum 13. Jahrhundert formten und im großen und ganzen bis in die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts Bestand hatten. Das Ende dieser Kontinuität kam in wenigen Jahrzehnten, um die Wende zum 20. Jahrhundert, und dann noch einmal – sich beschleunigend – in der Zeit nach 1945“ (S. 17). In einem Wort: Der Anlage des Werkes liegt das Modernisierungsparadigma zugrunde.2

Dies wiederum hat Folgen für den Inhalt dieses „Historischen Atlas“. Auf den ersten Blick fällt auf, dass er nicht viele Landkarten enthält, im Durchschnitt auf jeder dritten Seite eine (45 Landkarten des ganzen Landes oder von Teilgebieten auf den etwa 140 Seiten des Hauptteils). Dazu kommen 28 weitere geografische Darstellungen kleiner Flächen (Stadtgrundrisse, Flurkarten usw.) und zwanzig Grafiken (Säulen- und Kurvendiagramme usw.), vor allem aber viel Text. Im Vergleich etwa mit dem Klassiker unter den deutschen Geschichtsatlanten, dem „Großen Historischen Weltatlas“ aus dem Bayerischen Schulbuchverlag, ist dieser „Atlas“ eher ein großzügig mit Karten und Grafiken versehener Essayband.

Seine Themen sind unter strukturgeschichtlicher Dominante weitgespannt: Siedlung und Bevölkerung, spätmittelalterliche Agrarkrise und frühmoderne Agrarreform, Bildung und Kultur, Verkehrswesen und Städte, letztere anhand einiger prägnanter Fälle: des wikingerzeitlichen Handelszentrums Haithabu/Schleswig, der Mittelalterstädte Flensburg und Lübeck sowie der frühneuzeitlichen Fürstengründungen Altona und Glückstadt. Hinzu kommen landestypische Schwerpunkte wie Küstenschutz und Landgewinnung, die Nordfriesen, die „nationalen Bewegungen“ im 19. Jahrhundert.

Der Atlas bevorzugt den aussagefähigen Einzelfall vor dem Streben nach möglichst umfassender Darstellung. Die großen Agrarreformen am Ende des 18. Jahrhunderts etwa sind bekanntlich ein Kernthema der Landesgeschichte, denn in ihrer Radikalität gingen die aufklärerisch motivierten Strukturumbrüche hier wie im gesamten dänischen Reich weiter als irgendwo anders in Europa mit Ausnahme Großbritanniens; hier werden sie anhand der Flurkarten eines Dorfes und einer Domäne dargestellt. Dieses Prinzip bestimmt weitgehend die Themenauswahl und auch die Zumessung von Kartenraum. Zum Beispiel steht für die Anlage von Turnplätzen, Turnvereinen und Pferderennbahnen im frühen 19. Jahrhundert eine ganzseitige Landkarte zur Verfügung (S. 123), während klassische Atlasthemen deutlich zurückgenommen sind: Das Thema „Städte und Verkehrswege (13.–16. Jh.)“ mit Informationen zu Stadtcharakter, Gründung bzw. Stadtrechtsbewidmung nach Zeitpunkt, Rechtsgeber und Rechtstyp, zu Bischofssitzen und Klöstern, zum Münzwesen und dem Charakter der Landwege für das ganze Land ist auf eine einzige Karte von Karteikartengröße (12 x 10 cm) komprimiert (S. 81).

Diese Kritik soll den Herausgebern nicht ihr Recht absprechen, Themen zu bevorzugen und zu vernachlässigen, deren Bedeutung der Rezensent anders gewichtet. Allerdings muss man fragen, ob in dem geradezu demonstrativen Verzicht auf die politische und jede ereignisorientierte Geschichte nicht gerade die Möglichkeiten verschenkt werden, die ein Atlas nun einmal eröffnet. Die gesamte Kirchengeschichte – ein Gebiet, das aufgrund seiner räumlich oft verwirrenden Vielfalt der kartografischen Erläuterung in hohem Maße bedarf – wird an nur fünf Themen gezeigt, von denen zwei wiederum exemplarisch-wirtschaftsgeschichtlicher Art sind.3 Noch drastischer sieht es für die politische Geschichte aus. Sie wird auf fünf ganzseitigen Karten abgehandelt, die die politische Gliederung der Region um 1300, 1544, 1622, gegen 1750 und 1848 zeigen. Hier wird geradezu der Eindruck inszeniert, es handle sich um eine lästige Pflichtübung, und das nicht nur, weil die Karten ganz am Ende des Werkes stehen – was für sich genommen ja ein geradezu reizender, weil provokativer Einfall ist. Das Problem ist vielmehr, dass in dieser Beschränkung nicht mehr informiert werden kann. Die drei schauenburgischen Teilgrafschaften, in die Holstein am Ende des 13. Jahrhundert gegliedert war, sahen eine Generation später schon wieder ganz anders aus; die hier allein dargestellte ,Momentaufnahme‘ suggeriert dem nichtspezialisierten Nutzer aber zumindest Repräsentativität für das ganze Mittelalter. Ähnlich verhält es sich mit den hochkomplizierten Landesherrschaften des ‚ungedeelt‘ bleibenden, aber dennoch teilweise Sekundogenituren des dänischen Herrscherhauses unterstellten Landes mit seinen zahlreichen adligen Sonderrechten in der Frühen Neuzeit. Auch hier kann keine Rede von etwaiger Beschränkung aus Platzgründen sein: Die gesamte politische Geschichte nimmt weniger Raum ein als allein das Thema „Heide- und Moorkolonisation in Schleswig 1759-65“.

Hier soll nun nicht einer Renaissance des landesgeschichtlichen Territorienfetischismus das Wort geredet werden. Aber böte nicht gerade ein Atlas die Gelegenheit, diese Dinge einmal auch großzügig im historischen Verlauf und Wandel darzustellen, um künftige Darstellungen für lange Zeit von diesem Kleinkram entlasten zu können?

An diesen Stellen verzichtet der Atlas um des Prinzips willen darauf, hilfreich zu sein. Die Karte über die Verwaltungsbezirke 1848 (S. 159) ist eine „stumme Karte“: ein Flickenteppich von farbigen, unterschiedlich umrandeten Flächen ohne Namensbezeichnungen. Wenn schon nicht aus reinem Interesse an der Sache, so doch aus praktischen Erwägungen hätte man gern wenigstens einen Schlüssel gehabt: etwa um auf einen Blick zu wissen, in welchem Archivalienbestand man zu welcher Lokalität fündig wird. So aber sind die politischen Karten bloß impressionistisch und vermitteln den Eindruck, in der Vormoderne sei die Verwaltungsgliederung sehr uneinheitlich und kompliziert gewesen. Das ist vielleicht auch richtig, aber nicht genug in einem Werk, das voraussichtlich jahrzehntelang das einzige seiner Art bleiben wird. Gerade weil die in ihrer herkömmlichen Form sicher seit langem unfruchtbar gewordene politische Landesgeschichte zu den Feldern möglicher konzeptueller Neuansätze zählt, ist es ärgerlich, dass ein solcher Neuanfang sich nach wie vor auf keine kartografische Hilfestellung wird stützen können.

Im besonderen Falle Schleswig-Holsteins kommt noch etwas hinzu. Die strukturale Ausrichtung auf die Moderne hat dem Atlas, dessen Publikation im Lande von beträchtlicher öffentlicher Aufmerksamkeit begleitet wurde (wann wird schon einmal ein historisches Buch auf der Landespressekonferenz vorgestellt?), wohl zu seiner breiten Rezeption verholfen: „Steuerausfall gab’s auch schon vor 500 Jahren!“4 Sie ist in der Geradlinigkeit suggerierenden Anlage ihrer Erzählung vom historischen Verlauf aber nicht unproblematisch. Die Erzählung von 800 Jahren Kontinuität und einem „fundamental[en], umfassend[en] und rasant[en]“ Umbruch ab 1830, der, „wie nochmals hervorzuheben ist, nur noch von der Modernisierung Schleswig-Holsteins seit 1945 übertroffen“ wird 5 – sie braucht, um sich überhaupt erzählen zu können, die Identität jedes jeweils gegebenen Schleswig-Holstein mit jedem denkbaren vergangenen. Dass auf diese Weise die Vormoderne zum Vorspiel wird, ist eine gewiss nicht auf dieses Werk beschränkte Sache. Es geht aber in der die Linien in die Vergangenheit zurückziehenden Schau der Blick für die Kontingenz, für die historische Alternative verloren.

Bei einem Land nun, das aufgrund seiner Lage stets in alle Richtungen ,offen‘ gewesen ist und sich der unwidersprüchlichen Einordnung in großräumliche Zusammenhänge in besonders hohem Maße widersetzt, fällt dieser Verlust besonders ins Gewicht. Seine derzeitige relativ starke Anbindung an Westmitteleuropa, an Deutschland darf nicht den Blick dafür trüben, dass es sich bei der Zeit nach 1867 um einen kurzen Abschnitt der Geschichte und aller Voraussicht nach auch nicht um ihr „Ende“ handelt – auch nicht, wenn zwei der drei Atlasteilbände gerade dieser Episode gewidmet sind. Die implizite Orientierung am Rahmen der deutschen Geschichte führt im Falle einer Region, deren einer Teil durchgehend dänisch war und deren andere Hälfte, Nordelbingen/Holstein, Jahrhunderte lang eine Art ,frontier‘-Position einnahm, bevor sie im Spätmittelalter politisch und ökonomisch für ein halbes Jahrtausend ebenfalls in einen nördlichen Zusammenhang geriet 6, häufig ins Kuriose und/oder Unklare.7 Eine Darstellung aber, die weniger auf die Originarität ihres Gegenstandes als auf dessen Instrumentalisierbarkeit zur Illustration eines bereits im Vorwege postulierten Prinzips abzielt, riskiert, die Anschlussfähigkeit an alternative Diskussionen zu verlieren. Nur ein in seiner Partikularität wahrgenommener eigenwertiger europäischer Geschichtsraum kann unter Wahrung seiner Dignität in unterschiedlichen Zusammenhängen verstanden werden, statt immer nur Element eines ,master narrative‘ zu sein.

Anmerkungen:
1 Sinnvollerweise werden die früher nicht zu Schleswig und Holstein zählenden Gebiete, die heute zum Land gehören (Lübeck, das Fürstbistum Lübeck, das Herzogtum Lauenburg) mit behandelt.
2 Ausdrücklich wird für die ersten beiden Teile (1867-1945 und seit 1945) der „Modernisierungsprozess“ als der „thematische Schwerpunkt“ benannt, während für den dritten Teil (vor 1867) die „Kontinuität von gewachsenen Strukturen“ betont wird: Auch der historische Wandel berühre nicht grundlegend „über eine Distanz von 800 Jahren eine Kontinuität, die nicht nur für die politische Verfassung gilt, sondern auch für Leben, Wirtschaften und Denken der Menschen“ (S. 17).
3 „Kirchliche Einrichtungen vom 11. bis 16. Jahrhundert“ (Bischofssitze, Klöster); Kirchspiele und Bistumszugehörigkeiten um 1400; der Besitz des Augustiner-Chorherrenstifts Neumünster/Bordesholm um 1200 und um 1500, schließlich der Verbleib der unter geistlicher Herrschaft stehenden Bauern sowie des kirchlichen Grundbesitzes nach der Reformation. Die nachreformatorische Kirchengeschichte fehlt ganz.
4 Schlagzeile der Besprechung in den Blättern des Schleswig-Holsteinischen Zeitungsverlags (sh:z, 19.11.2004) unter Hinblick auf die Karten zum Rückgang der Einkünfte des Schleswiger Domkapitels im 15. gegenüber dem 14. Jahrhundert.
5 Wie Anm. 2, S. 20.
6 Die formelle Eidergrenze zwischen Dänemark und dem Reich hat lebensweltlich anscheinend, seitdem die moorig-waldige Ödmark im Hochmittelalter aufgesiedelt wurde, keine Grenze dargestellt. Zur Abwendung Holsteins vom Süden vgl. Mörke, Olaf, Holstein und Schwedisch-Pommern im Alten Reich. Integrationsmuster und politische Identitäten in Grenzregionen, in: Jörn, Nils; North, Michael (Hgg.), Die Integration des südlichen Ostseeraumes in das Alte Reich, Köln 2000, S. 425-472.
7 Z.B. (zum Absentismus von Bischöfen im Spätmittelalter, S. 139:) „Diese Tendenz ist nicht nur in Schleswig-Holstein, sondern im gesamten deutschen Reich zu beobachten“; (zu politischen Volksfesten an leicht erreichbaren Orten in den 1830er-Jahren, S. 20:) „Das geschah in vielen deutschen Territorien.“ Zur Städtebildung heißt es, sie habe im Vergleich mit West- und Mitteleuropa „sehr spät“, nämlich im 9. Jahrhundert, eingesetzt und ihren Höhepunkt im 13. Jahrhundert gehabt (S. 79); statt der banalen Kontrastierung mit einst römischen Gebieten wäre der zeitliche Vergleich mit benachbarten Regionen in Nordosteuropa, wo das Städtewesen unter ähnlichen Bedingungen entstand, viel aufschlussreicher gewesen.

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